Prof. Heinz Weiß, Stuttgart Die Vergangenheit einer Illusion – Psychoanalytische Überlegungen zum utopischen Denken am Beispiel der russischen Oktoberrevolution

Ort: Institut für Psychoanalyse Tübingen
Konrad-Adenauer-Straße 23
72072 Tübingen

Ausgehend von den Entwicklungen im Vorfeld und im Anschluss an die russische Oktoberrevolution werden aus psychoanalytischer Sicht verschiedene Aspekte des utopischen Denkens diskutiert. Während utopisches Denken im Sinne einer imaginativen Phantasie über die Grenzen des Bestehenden hinausweist und neue Möglichkeiten erschließt, wird es im Sinne einer omnipotenten Phantasie (H. Segal) zu einer totalitären Ideologie, deren destruktives Potential schon früh nach den revolutionären Veränderungen des Jahres 1917 sichtbar wurde. Ideologie und Utopie werden im Sinne eines Rückzugsortes bzw. zeitlosen Zustandes (J. Steiner) verstanden, der zunehmend an die Stelle der Wirklichkeit tritt und zu einer fast wahnhaften Verleugnung von Schuldgefühlen führt. Am Beispiel von Jevgenj Samjatins Roman „Wir“ (1921) wird der dystopische Ausgang des „russischen Experiments“ (S. Freud) diskutiert und zu aktuellen Entwicklungen in Beziehung gesetzt.